Dass die Krim immer unser gewesen sei und dass es dort Missstände gegeben habe, dass unsere Schwarzmeerflotte dort hingehöre und dass die Mehrzahl der Menschen dafür gewesen sein soll. Mein Friseur in Moskau sagte zum Beispiel: „Du weißt, ich bin gegen Putin, aber dass er die Krim nach Hause zurückgeholt hat, rechne ich ihm hoch an.“ Aber es gab auch Intellektuelle, die diese Meinung teilten.
Wie passt das zusammen – gegen Putin und für die Krim-Annexion zu sein?
Man muss klar sagen, dass es sich hier mindestens um ein Doppeldenken handelt, um eine kognitive Dissonanz. Und die ist bei vielen Menschen in Russland stark ausgeprägt. Wir sehen das jetzt erst recht: Man will vielleicht den Krieg nicht, aber man sieht auch keine Alternative zu Putin, deshalb steht man doch zu ihm. Dieses Regime hat das aus den Menschen gemacht – und die Menschen haben das zugelassen.
Das ist die Folge von fast 24 Jahren Propaganda, Anpassung, Angst, Bestechung und der Vernichtung politischer, oppositioneller Stimmen. Die russische Bevölkerung hat sich immer mehr an die Unfreiheit und Gewalt gewöhnt.
Die Menschen wollen das aber nicht begreifen, oder nicht zugeben. Ich muss sagen, dass ich niemals gedacht hätte, dass es wirklich zu so einem katastrophalen Krieg kommen könnte, wie wir ihn seit fast eineinhalb Jahren sehen.
Empfindet die Mehrheit der liberalen, regimekritischen Russen diesen Krieg denn tatsächlich als Katastrophe?
Ich glaube schon. Das hat sich darin gezeigt, dass Hunderttausende Russen das Land nach dem Kriegsbeginn verlassen haben, und viele Antikriegsinitiativen entwickeln. Wie auch die Memorial. Und ich kenne sehr viele Menschen in Russland, die auch dort alles, was in ihrer Kraft steht, tun, um gegen diesen Krieg aufzutreten. Täglich gibt es Repressionen gegen solche Taten. Dazu braucht man Mut.
Denn in Russland gibt es Folter. Die Folter zu Stalins Zeit wurde geheim gehalten. Heute werden Menschen in den Strafkolonien ebenfalls gefoltert, gedemütigt, vergewaltigt – aber das ist bekannt. Wenn Demonstranten vom 70-jährigen Senioren bis zur jungen Studentin auf offener Straße von den Sicherheitsgarden zusammengeprügelt werden, kann man das in den sozialen Netzwerken sehen. Die Menschen wissen von der massiven Gewalt, die vom Staat ausgeht. Und sie akzeptieren sie.
Die augenscheinliche Passivität der russischen Bevölkerung wird häufig damit erklärt, dass sie Teil einer „russischen Mentalität“ sei.
Ich habe ein Problem mit dem Begriff „Mentalität“. Es gibt viele Familien, die russisch-ukrainische Wurzeln haben. Ein Teil meiner Familie etwa kommt ursprünglich aus der Ukraine, meine Großeltern beiderseits. Mein Vater, der 1941 aus dem damaligen Dnepropetrowsk in den Krieg zog, kehrte nicht nach Hause in die Ukraine zurück. Sein Haus war zerstört und einige Mitglieder der Familie lagen im Massengrab, also blieb er in Russland, um in Moskau zu studieren. Er war aber bis zu seinem Tod ein absoluter Putingegner, wie auch meine in Moskau geborene Mutter. Von welcher „Mentalität“ waren sie also geprägt?
Woran liegt es, dass die Ukraine sich vom Autoritarismus wegbewegen konnte und Russland nicht?
Die politische Kultur der Westukraine, die kürzer unter kommunistischer Herrschaft stand und wo es nach dem Zweiten Weltkriegs eine aktive Widerstandsbewegung gab, hat einen in meinen Augen sehr starken Einfluss gehabt. Die junge Generation der Ukrainer schaute deutlich in Richtung Europa. Und es gab keine imperiale Tradition, im Gegenteil: das Streben zur Unabhängigkeit. Diese politische Kultur konnte man schon seit dem ersten Maidan beobachten, und vor allem 2014. Die Menschen in Kiew waren bereit, für ihre Freiheit zu sterben.
In Russland hingegen trat man nie in dieser Form geeint auf. Die Proteste wurden nicht vom ganzen Land unterstützt, also wurden diese immer kleiner und dadurch auch gefährlicher für alle, die daran teilnahmen.
Russische Regimegegner könnten jetzt ebenfalls große Proteste im Exil organisieren.
Sie finden durchaus effektive Wege, ihren Protest auszudrücken, auch, wenn er nicht unbedingt in Form von Demonstrationen stattfindet. Sie gründen zum Beispiel viele unabhängige Medien. Oder treten mit den Antikriegsinitiativen auf. Sie versuchen auf diese Weise Zugang zu den Menschen in Russland zu bekommen.
Ich weiß, dass die Ukrainer oft nicht zufrieden damit sind, was in russischen Exilmedien gesagt wird. Dieser schreckliche Krieg steigert die Sensibilität für Worte, man muss darauf sehr achten. Es geht ja nicht um Selbstdarstellung, sondern um den Widerstand. Trotzdem finde ich es sehr wichtig, dass es unabhängige Medien gibt, weil sie zumindest die Chance haben, die Stimmung im Land zu beeinflussen.
Wir von Memorial haben uns nach der Liquidierung in Russland neu gegründet, in Berlin gibt es nun eine Exilorganisation namens Memorial-Zukunft. Eine der wichtigsten Fragen, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen, ist, was und wie unsere Arbeit vor dem Hintergrund dieses schrecklichen Krieges, der das Leben von Menschen in vielen Ländern verändert hat, nützlich sein kann.
Nämlich wie?
Wir versuchen hier mit Memorial, Netzwerke aufzubauen und die Lügengeschichten der russischen Propaganda zu widerlegen. Das Regime rechtfertigt diesen Krieg durch furchtbare Verdrehungen der Geschichte und es ist unsere Aufgabe, das auseinanderzunehmen. Und es ist unsere Aufgabe, Beweise für russische Kriegsverbrechen zu sammeln, was Memorial seit 2014 vor Ort macht.
Diese Arbeit ist noch wichtiger geworden. Heute ist es notwendig, neue Möglichkeiten der Bildungs-, der Öffentlichkeitsarbeit, der Wissenschaft und der Medien zu schaffen, um es den Bürgern der Welt – russischsprachigen und nicht russischsprachigen – zu ermöglichen, sich über das totalitäre Erbe Russlands und Europas im 20. Jahrhundert zu informieren.
Mit der deutschen Zivilgesellschaft, mit Historikern, Museumsmitarbeitern, Journalisten, verbindet uns eine jahrzehntelange gemeinsame Geschichtsarbeit. Auch der Name Memorial-Zukunft ist nicht zufällig gewählt. In der russischen Propaganda ist die Zukunft eine Rückkehr in eine mythische Vergangenheit, und der Angriff auf die Ukraine ist ein Krieg um diese imaginäre Vergangenheit. Die Arbeit von Memorial mit der Vergangenheit war immer für eine neue demokratische Zukunft bestimmt.
Sehen Sie noch eine Chance für Russland?
Russlands einzige Chance sich zu verändern ist mit dem Sieg der Ukraine in diesem Krieg verbunden. Und danach mit einem langen, tiefgreifenden Prozess der „Entputinisierung“. Das bedeutet einerseits Aufarbeitung, aber auch, Verantwortung zu übernehmen für die Verbrechen, die Russland in diesem Krieg begeht – gesellschaftlich, juristisch und politisch.
Was hörten Sie da?
Dass die Krim immer unser gewesen sei und dass es dort Missstände gegeben habe, dass unsere Schwarzmeerflotte dort hingehöre und dass die Mehrzahl der Menschen dafür gewesen sein soll. Mein Friseur in Moskau sagte zum Beispiel: „Du weißt, ich bin gegen Putin, aber dass er die Krim nach Hause zurückgeholt hat, rechne ich ihm hoch an.“ Aber es gab auch Intellektuelle, die diese Meinung teilten.
Wie passt das zusammen – gegen Putin und für die Krim-Annexion zu sein?
Man muss klar sagen, dass es sich hier mindestens um ein Doppeldenken handelt, um eine kognitive Dissonanz. Und die ist bei vielen Menschen in Russland stark ausgeprägt. Wir sehen das jetzt erst recht: Man will vielleicht den Krieg nicht, aber man sieht auch keine Alternative zu Putin, deshalb steht man doch zu ihm. Dieses Regime hat das aus den Menschen gemacht – und die Menschen haben das zugelassen.
Das ist die Folge von fast 24 Jahren Propaganda, Anpassung, Angst, Bestechung und der Vernichtung politischer, oppositioneller Stimmen. Die russische Bevölkerung hat sich immer mehr an die Unfreiheit und Gewalt gewöhnt.
Die Menschen wollen das aber nicht begreifen, oder nicht zugeben. Ich muss sagen, dass ich niemals gedacht hätte, dass es wirklich zu so einem katastrophalen Krieg kommen könnte, wie wir ihn seit fast eineinhalb Jahren sehen.
Empfindet die Mehrheit der liberalen, regimekritischen Russen diesen Krieg denn tatsächlich als Katastrophe?
Ich glaube schon. Das hat sich darin gezeigt, dass Hunderttausende Russen das Land nach dem Kriegsbeginn verlassen haben, und viele Antikriegsinitiativen entwickeln. Wie auch die Memorial. Und ich kenne sehr viele Menschen in Russland, die auch dort alles, was in ihrer Kraft steht, tun, um gegen diesen Krieg aufzutreten. Täglich gibt es Repressionen gegen solche Taten. Dazu braucht man Mut.
Denn in Russland gibt es Folter. Die Folter zu Stalins Zeit wurde geheim gehalten. Heute werden Menschen in den Strafkolonien ebenfalls gefoltert, gedemütigt, vergewaltigt – aber das ist bekannt. Wenn Demonstranten vom 70-jährigen Senioren bis zur jungen Studentin auf offener Straße von den Sicherheitsgarden zusammengeprügelt werden, kann man das in den sozialen Netzwerken sehen. Die Menschen wissen von der massiven Gewalt, die vom Staat ausgeht. Und sie akzeptieren sie.
Die augenscheinliche Passivität der russischen Bevölkerung wird häufig damit erklärt, dass sie Teil einer „russischen Mentalität“ sei.
Ich habe ein Problem mit dem Begriff „Mentalität“. Es gibt viele Familien, die russisch-ukrainische Wurzeln haben. Ein Teil meiner Familie etwa kommt ursprünglich aus der Ukraine, meine Großeltern beiderseits. Mein Vater, der 1941 aus dem damaligen Dnepropetrowsk in den Krieg zog, kehrte nicht nach Hause in die Ukraine zurück. Sein Haus war zerstört und einige Mitglieder der Familie lagen im Massengrab, also blieb er in Russland, um in Moskau zu studieren. Er war aber bis zu seinem Tod ein absoluter Putingegner, wie auch meine in Moskau geborene Mutter. Von welcher „Mentalität“ waren sie also geprägt?
Woran liegt es, dass die Ukraine sich vom Autoritarismus wegbewegen konnte und Russland nicht?
Die politische Kultur der Westukraine, die kürzer unter kommunistischer Herrschaft stand und wo es nach dem Zweiten Weltkriegs eine aktive Widerstandsbewegung gab, hat einen in meinen Augen sehr starken Einfluss gehabt. Die junge Generation der Ukrainer schaute deutlich in Richtung Europa. Und es gab keine imperiale Tradition, im Gegenteil: das Streben zur Unabhängigkeit. Diese politische Kultur konnte man schon seit dem ersten Maidan beobachten, und vor allem 2014. Die Menschen in Kiew waren bereit, für ihre Freiheit zu sterben.
In Russland hingegen trat man nie in dieser Form geeint auf. Die Proteste wurden nicht vom ganzen Land unterstützt, also wurden diese immer kleiner und dadurch auch gefährlicher für alle, die daran teilnahmen.
Russische Regimegegner könnten jetzt ebenfalls große Proteste im Exil organisieren.
Sie finden durchaus effektive Wege, ihren Protest auszudrücken, auch, wenn er nicht unbedingt in Form von Demonstrationen stattfindet. Sie gründen zum Beispiel viele unabhängige Medien. Oder treten mit den Antikriegsinitiativen auf. Sie versuchen auf diese Weise Zugang zu den Menschen in Russland zu bekommen.
Ich weiß, dass die Ukrainer oft nicht zufrieden damit sind, was in russischen Exilmedien gesagt wird. Dieser schreckliche Krieg steigert die Sensibilität für Worte, man muss darauf sehr achten. Es geht ja nicht um Selbstdarstellung, sondern um den Widerstand. Trotzdem finde ich es sehr wichtig, dass es unabhängige Medien gibt, weil sie zumindest die Chance haben, die Stimmung im Land zu beeinflussen.
Wir von Memorial haben uns nach der Liquidierung in Russland neu gegründet, in Berlin gibt es nun eine Exilorganisation namens Memorial-Zukunft. Eine der wichtigsten Fragen, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen, ist, was und wie unsere Arbeit vor dem Hintergrund dieses schrecklichen Krieges, der das Leben von Menschen in vielen Ländern verändert hat, nützlich sein kann.
Nämlich wie?
Wir versuchen hier mit Memorial, Netzwerke aufzubauen und die Lügengeschichten der russischen Propaganda zu widerlegen. Das Regime rechtfertigt diesen Krieg durch furchtbare Verdrehungen der Geschichte und es ist unsere Aufgabe, das auseinanderzunehmen. Und es ist unsere Aufgabe, Beweise für russische Kriegsverbrechen zu sammeln, was Memorial seit 2014 vor Ort macht.
Diese Arbeit ist noch wichtiger geworden. Heute ist es notwendig, neue Möglichkeiten der Bildungs-, der Öffentlichkeitsarbeit, der Wissenschaft und der Medien zu schaffen, um es den Bürgern der Welt – russischsprachigen und nicht russischsprachigen – zu ermöglichen, sich über das totalitäre Erbe Russlands und Europas im 20. Jahrhundert zu informieren.
Mit der deutschen Zivilgesellschaft, mit Historikern, Museumsmitarbeitern, Journalisten, verbindet uns eine jahrzehntelange gemeinsame Geschichtsarbeit. Auch der Name Memorial-Zukunft ist nicht zufällig gewählt. In der russischen Propaganda ist die Zukunft eine Rückkehr in eine mythische Vergangenheit, und der Angriff auf die Ukraine ist ein Krieg um diese imaginäre Vergangenheit. Die Arbeit von Memorial mit der Vergangenheit war immer für eine neue demokratische Zukunft bestimmt.
Sehen Sie noch eine Chance für Russland?
Russlands einzige Chance sich zu verändern ist mit dem Sieg der Ukraine in diesem Krieg verbunden. Und danach mit einem langen, tiefgreifenden Prozess der „Entputinisierung“. Das bedeutet einerseits Aufarbeitung, aber auch, Verantwortung zu übernehmen für die Verbrechen, die Russland in diesem Krieg begeht – gesellschaftlich, juristisch und politisch.